Definition von Vulnerabilität in Krisenzeiten und ein verhältnismäßiger Umgang mit vulnerablen Gruppen in der Krise

Unsere Factsheets:

Die aus den Ergebnissen des PanReflex-Forschung passenden Factsheets können Sie hier aufrufen:

Befund

Die Wahrnehmung und Zuschreibung vulnerabler Gruppen hat sich im Verlauf der Pandemie als ein komplexer und dynamischer Prozess herausgestellt. Auffällig war, dass die Definition, wer als besonders schutzbedürftig gilt, stark von den jeweils dominierenden Fokusthemen innerhalb der Krisenlage sowie von der Zusammensetzung des Krisenstabs abhängig war – und sich dementsprechend veränderte. Vulnerabilität erweist sich dabei als eine situationsabhängige, gefährdungsbezogene Eigenschaft, die sich im Krisenverlauf verschieben kann.

Zu Beginn der Pandemie lag der Fokus auf Gruppen mit physiologischer Anfälligkeit für das Virus, wie Senior:innen oder immungeschwächte Personen. Schutzmaßnahmen zielten in erster Linie auf diese sogenannte primäre Vulnerabilität ab. Gleichzeitig führte jedoch genau dieser Fokus dazu, dass sekundäre Vulnerabilitäten, wie psychische Belastungen, soziale Isolation oder der Verlust von Teilhabemöglichkeiten, zunächst nur unzureichend berücksichtigt wurden.

Ein weiteres Problem zeigte sich in der Art und Weise, wie und wer als vulnerable Gruppen definiert wurden: Die Bildung solcher Gruppen erfolgte überwiegend top-down, also ohne Rücksprache mit den Betroffenen oder deren Vertretungen. Dadurch wurden individuelle Unterschiede innerhalb der Gruppen nicht ausreichend berücksichtigt. Die Schutzmaßnahmen selbst konnten bestehende Verwundbarkeiten verschärfen oder sogar neue erzeugen – mit langfristigen Kaskadeneffekten, die zu Beginn kaum mitgedacht wurden.

Der sogenannte Capability-Ansatz bietet hier eine differenziertere Perspektive, indem er nicht nur auf Risikomerkmale fokussiert, sondern auf die tatsächlichen Fähigkeiten und Handlungsspielräume der betroffenen Menschen. Trotz der Erfahrungen aus der Pandemie gaben lediglich rund 17 % der befragten kommunalen Akteure an, dass in ihrer Kommune bereits Maßnahmen zur vorausschauenden Berücksichtigung vulnerabler Gruppen entwickelt wurden. Als wichtigste Maßnahme für den Umgang mit Vulnerabilität sehen die Befragten die konsequente Prüfung der Verhältnismäßigkeit von Maßnahmen an.

Um die kommunale Resilienz gegenüber zukünftigen Krisen zu stärken, ist ein sensibler, anpassungsfähiger und differenzierter Umgang mit dem Thema Vulnerabilität erforderlich.

Handlungsempfehlungen

  • Differenzierte Betrachtung von Vulnerabilität mit einem Fokus auf Merkmale und Fähigkeiten
    Die Definition von vulnerablen Gruppen, die in den Krisenstäben vorgenommen wird und als handlungsleitende Grundlage dient, sollte sich insbesondere bei langandauernden Krisen auf Fähigkeiten, Ressourcen und Handlungsspielräume der Menschen fokussieren und weniger an Defiziten oder einzelnen Gruppenmerkmalen wie beispielsweise dem Alter oder einer Krankheitsdiagnose. Darauf aufbauend lassen sich dann differenzierte Maßnahmen ableiten, die Selbstbestimmung und Teilhabe in den Mittelpunkt rücken.
  • Beteiligung und Repräsentation vulnerabler Gruppen im Krisenstab sicherstellen
    Der Austausch zwischen dem Krisenstab und Interessensvertretungen vulnerabler Gruppen kann dazu beitragen, dass die getroffenen Maßnahmen passgenauer und wirkungsvoller sind. Die frühzeitige und systematisch Einbindung von Betroffenen und ihren Interessenvertretungen kann durch punktuellen Austausch in der akuten Krise oder auch mittels regelmäßiger Beteiligung geschehen. Um diesen Austausch auch in stressigen Krisensituationen gewährleisten zu können, sind funktionierende und vertrauensvolle Kontakte und Netzwerke mit Interessensvertretungen und dem lokalen Hilfesystem die zentrale Grundlage.
  • Maßnahmen zur besseren Berücksichtigung von vulnerablen Gruppen im Krisenmanagement
    Damit vulnerable Gruppen in Zukunft besser berücksichtigt werden, ist es hilfreich, in Protokollen, Notfall-, Alarm und Einsatzplänen konsequent das Thema Vulnerabilität zu adressieren und im Vorfeld für möglichst viele Szenarien zu definieren, welche Gruppen besonders betroffen sein könnten. Auch die Einrichtung von Datenbanken zu bestimmten vulnerablen Gruppen, wie zum Beispiel eine stadtweite Übersicht zu heimbeatmeten Personen, kann im Krisenfall (Stromausfall) hilfreich sein.

Handlungswissen und Ressourcen:

 

Praxisbeispiele

Leitfäden:

  • Die Ergebnisse der Studie stützen die Einschätzung der Vereinten Nationen zum Stand der Umsetzung der Behindertenrechtskonvention in Deutschland aus dem Jahr 2023: Dies gilt insbesondere für die Feststellung, dass es bisher an strategischen, akteursübergreifenden und deutschlandweiten Strukturen mangelt, um Menschen mit Behinderungen, ihre Unterstützungsbedarfe und Fähigkeiten, systematisch mitzudenken. Die vorliegende Studie liefert einen ausführlichen Bericht über die aktuelle Situation im deutschen Katastrophenmanagement.
  • Zusammenarbeit erfolgreich gestalten: Wie die ambulante Versorgung von Pflege- und Hilfsbedürftigen in Schadenslagen sichergestellt werden kann
    Der Leitfaden stellt die Ergebnisse und Erkenntnisse aus Recherchen und Interviews dar und hat zum Ziel, die zwei Sphären des Katastrophenschutzes und des Sozialen bzw. der Pflege einander näher zu bringen, die Netzwerkbildung zwischen ihnen zu unterstützen und Anregungen zu geben, wie die ambulante Versorgung von Pflege- und Hilfsbedürftigen in Schadenslagen gemeinsam sichergestellt werden kann.
  • Kaskadeneffekte in Krisensituationen erkennen und abschätzen
    Die Website CascEff-Projekt stell Informationen und Tools zum Verständnis von Kaskadeneffekten in Krisensituationen insbesondere für vulnerable Gruppen bereit, um die Folgen eskalierender Ereignisse in komplexen Umgebungen zu verringern und dem Ziel, Begleitschäden und andere negative Folgen großer Krisen zu minimieren.